Wolfgang Jeschke:
Das Cusanus-Spiel
Wie Hunde, die gelernt haben, die Türen von U-Bahnen zu bedienen, fühlen
sich die Wissenschaftler im Casimir-Institut von Amsterdam. Jahr um Jahr
tasten sie sich weiter in die Vergangenheit vor, mit Hilfe einer
Technik, die ihnen so unverständlich ist wie einem Menschen des
15. Jahrhunderts eine Schneise der Verwüstung durch Mitteleuropa,
ausgelöst 2028 durch einen Unfall im Kernkraftwerk Cattenom.
24 Jahre danach ist die Festung Europa dabei, die Folgen dieser
und anderer Katastrophen mühsam zu reparieren und sich des Ansturms
afrikanischer Flüchtlinge zu erwehren. Man ist darin immerhin
erfolgreicher als im Kampf gegen die vordringende Sahara. Japanische
Nanotechnik soll Venedig vor dem Untergang bewahren, während sich der
Vatikan eine Ersatzresidenz in Salzburg aufbaut und die mysteriöse
»Rinascita della Creazione di Dio« finanziert.
Domenica Ligrina, Hauptfigur des Romans und Chronistin der Geschehnisse,
bewirbt sich für dieses Projekt als Botanikerin, erhält in Venedig ihre
Grundausbildung und reist in einem versiegelten Zug quer durch das
verstrahlte Deutschland nach Amsterdam, ihrem Einsatzort. Gegen die
Veränderung bedeutender geschichtliche Wendepunkte scheint sich die Zeit
selbst zu stemmen, Hightech-Spezialisten müssen sich also damit
begnügen, Korrekturen an kleineren Ereignissen der nahen Vergangenheit
vorzunehmen. Domenica wiederum soll sich im Köln des Jahres 1452
niederlassen, auf Exkursionen in die Umgebung Proben der noch
unverfälschten Pflanzenwelt sammeln und ihre Ausbeute zur
Wiederherstellung der Schöpfung Gottes in ihre Gegenwart hinüberretten.
Ihre Tarnexistenz - Gehilfin eines niederländischen Apothekers - bewahrt
sie allerdings nicht davor, von übelwollenden »Zeitheimischen« der
Hexerei angeklagt und eingekerkert zu werden. Selbst ein aufgeklärter
Geist wie Nicolaus Cusanus kann sich nur schwer gegen eine Bevölkerung
behaupten, die angesichts politischer und religiöser Umwälzungen ihre
Ängste durch die Verfolgung von Juden und angeblicher Hexen zu
kompensieren versucht - so wie Jahrhunderte später faschistische Gruppen
Einwanderer massakrieren, die den verödeten Osten Deutschlands
wiederbeleben wollen. Andererseits: Wenn Cusanus doch die Chance gehabt
hätte, wäre dann alles anders, besser oder besser doch nicht anders
gekommen?
Die Handlung des Buches in wenigen Absätzen wiederzugeben, scheitert
ebenso wie der Versuch, es in eine der vielen Schubladen der Science
Fiction-Literatur zu zwängen. Es paßt ohnehin besser in eine Vitrine,
zwischen die eher auf mentalen Fähigkeiten beruhenden
Zeitreisegeschichten Jack Finneys und ihre physikalischen Gegenstücke
der Hard SF, neben die Katastrophenromane eines John Brunner und nicht
zuletzt in unmittelbare Nachbarschaft zu den Werken Carl Amerys.
Den Leser erwartet ein Reiseführer: Durch ein kaum noch
wiederzuerkennendes Mitteleuropa, das sich wie der Rest der Welt
gravierenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen
ausgesetzt sieht. Durch eine geographische und geistige Landschaft
zwischen Mittelalter und Neuzeit, deren Bewohner ihr Leben zwischen
Ungeziefer und Aberglauben fristen. Und nicht zuletzt durch die
philosophisch und wissenschaftlich kaum zu erfassenden Gefilde der Zeit
mit ihren seltsamen Lebewesen.
Es ist kein leichtes Unterfangen, dies alles unter einen Hut oder -
besser gesagt - zwischen die Einbände eines Buches zu bringen. Viele
erschaffen aus dem Steinbruch der Science Fiction kaum mehr als eine
windschiefe Hütte oder im besten Falle einen pompösen Landsitz auf
wackligem Fundament. Es ist uns deshalb eine Ehre, den Deutschen Science
Fiction Preis 2006 für den besten Roman des vorangegangenen Jahres an
Wolfgang Jeschke für »Das Cusanus-Spiel« zu verleihen, das es aus
literarischer Sicht durchaus mit den darin beschriebenen Bauwerken
Venedigs aufnehmen kann.
Thomas Recktenwald
- für das Preiskomitee -
Juni 2006
Laudatio zur Kurzgeschichte 2006