Im
November 1929 hat der damals 23 Jahre alte Mathematiker Kurt Gödel
im Wiener Café "Museum" eine merkwürdige Begegnung. Während
er dort, zwei Jahre vor Erscheinen seiner berühmtesten Abhandlung,
erste Ansätze dazu in sein Notizbuch schreibt, nimmt er plötzlich
wahr, daß sein Spiegelbild, Gödel II, ein Eigenleben entwickelt,
am Ende sogar aus dem Spiegel tritt und darum bittet, an seinem Tisch Platz
nehmen zu dürfen.
Es entwickelt sich ein aus verständlichen Gründen zunächst
stockendes, dann immer lebhafter werdendes Gespräch über die
Mathematik und die Welt. Der eher schüchterne Gödel I erfährt
von seinem auch charakterlich spiegelbildlichen Gegenüber einiges
über die "Welt hinter den Spiegeln", insbesondere daß dort auch
die Zeit gespiegelt wird, somit rückwärts läuft. Dadurch
weiß Gödel II, was Gödel I bevorsteht, und er erklärt
ihm in groben Zügen die nicht gerade erfreulichen politischen Entwicklungen
der kommenden Jahrzehnte. Angesichts dieser Tendenzen ist Gödel I
nur allzu gerne bereit, anstelle von Gödel II in den Spiegel zu gehen,
während letzterer die zukünftigen Arbeiten Gödels, die für
ihn ja Vergangenheit sind, niederschreiben wird. Und er scheint nicht der
einzige Gelehrte zu sein, der mit seinem Spiegelbild getauscht hat...
Zwangsläufig muß eine Geschichte, die in einem einzigen Raum, noch dazu im fast
abgeschlossenen System eines Wiener Caféhauses spielt, vom Dialog
leben. Und das Zusammentreffen jenes berühmten Mathematikers, dessen
umwälzende Erkenntnisse erst ein halbes Jahrhundert später ins
Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit dringen, mit seinem
Spiegelbild bietet reichlich Gelegenheit dazu, schließlich muß
die Tatsache, daß sich ein Spiegelbild so gänzlich unerwartet
verhält, ja mathematisch und physikalisch erklärt werden. Derweil
laufen in der Umgebung der beiden Gesprächspartner die typischen -
für einen Außenseiter eher unverständlichen - Rituale einer
Wiener Caféhaus-Gesellschaft ab, die jedoch offenbar ebenfalls physikalischen
Regeln (oder eher Ausnahmen) gehorchen.
Man mag sich darüber streiten, ob diese Erzählung eher der Phantastik
als der SF zuzuordnen ist, in ihrem satirischen Unterton ist sie jedenfalls
mit letzterer verwandt. Liebevoll und detailversessen wird der Mikrokosmos
des Cafés beschrieben, und es fehlt nicht an Anspielungen auf Wiener
Gesellschaft und Politik der ausgehenden Zwanziger Jahre. Dies alles ist
in einem Stil und Tonfall gehalten, die das Lesen zu einem Vergnügen
machen. Dem Autor ist das Kunststück gelungen, Spannung und Beschaulichkeit
zu vereinen.
Thomas Recktenwald
- für das Literaturpreiskomitee -
Laudatio zum Roman '91