Wolfgang Jeschke:
Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan
"Stell
dir vor..." ist der Anfang einer jeden Erzählung, eines jeden Märchens,
und vor allem eines jeden Textes, der uns Utopien nahe bringen will.
"Stell dir vor..." ist ein Zauberwort, der Leser oder Zuhörer lehnt sich
genüßlich in seinem Sessel zurück, bemüht sich, alle
Gedanken an Alltägliches zu verscheuchen und bereitet sich darauf
vor, sich ganz der Geschichte hinzugeben.
"Stell dir vor..." - und ab jetzt erwarten wir Unterhaltung, vielleicht Belustigung, Entspannung, mag sein auch ein wenig Kritik, damit wir sagen können,
wir haben gelernt.
Wolfgang Jeschke, 1936 geboren, vor allem bekannt als Herausgeber zahlloser Anthologien
und Romane, erzählt uns eine Geschichte. Was erwarten wir von ihr?
Was erwarten wir uns von einem SF-Autoren?
Vor allem erwarten wir keine Realität. Keine Geschichte, die uns grausam
packt und nicht mehr losläßt. Keine Handlung, die uns, mag sie
auch noch so utopisch sein, die Realitäten unserer zeit vor Augen
führt. Die unnachsichtig mit unserem Wunsch, die Augen zu verschließen
vor den Tatsachen, die wir meinen nicht ändern zu können, weil
das Leiden überall in dieser Welt gegenwärtig ist, vorgeht.
"Stell dir vor: Derzeit sterben täglich etwa 40.000 Kinder einen oft schrecklichen
Tod. Und nun stell dir vor, diese 40.000 kleinen Leichen würden jede
nacht auf dem Petersplatz erscheinen. Dem Ort, von dem seit anderthalb
Jahrzehnten in uneinsichtiger Weise Ermunterung ausgeht, unsere Spezies
hemmungslos zu vermehren, aber keine Initiative, sich um das schutzbedürftige
geborene Leben zu sorgen."
Diese Vorstellung Wolfgang Jeschkes entstand auf einem Kongreß, der dem
Thema der Zukunft des Menschen gewidmet war, und sie erntete nachsichtige
Blicke in einer Masse wohlgenährter Gesichter, erwärmt von jenem
religiösen Völlegefühl, das keinem Zweifel Raum läßt.
Doch nun stellt es einmal wirklich vor! Schließt die Augen und versucht,
euch 40.000 Kinderleichen auf kleinstem Raum vorzustellen! Riecht den Gestank,
der von diesen Bergen von Kadavern ausgeht. Laßt eure Gedanken zum
Petersplatz wandern, zu seiner Ausstrahlung der Ruhe und der Erhabenheit,
abends, wenn die Touristen weg sind.
Und nun seht ihr dort die Leichen der Kinder, die an der Cholera, der Ruhr,
an AIDS und an Krebs starben, die von ihren Eltern zu Tode geprügelt
wurden und die starben, weil es nicht genug Nahrung gab, sie am Leben zu
erhalten.
Stellt euch vor, wie der Vatikan und vor allem sein Oberhaupt reagieren würden.
Ein Aufschrei ginge durch die Reihen der kirchlichen Würdenträger
und sie würden künftig alles daran setzen, dem Schutz des ungeborenen
Lebens den Schutz des geborenen Lebens voranzustellen...
...doch weit davon entfernt. Nacht für Nacht werden die Leichen unter dem
Schutz einer Holoprojektion des friedlich im Mondlicht daliegenden Petersplatzes
weggekarrt, und die Fensterläden der Gemächer des Papstes bleiben
geschlossen.
Diese Geschichte erzählt uns Wolfgang Jeschke. Eine Geschichte jenseits
der Erzählungen, die mit beruhigenden und glatten Inhalten nach dem
Motto: "Wir üben jetzt ein wenig Gesellschaftskritik, wollen damit
aber niemandem weh tun. Sollte dies doch der Fall sein, entschuldigen wir
uns bereits jetzt!" vorgehen.
Keine beruhigende, keine entspannende, sondern eine bitterböse Geschichte.
Für diese Erzählung, die uns Unvorstellbares nahe bringt, indem sie in
einer Utopie realer werden läßt, als uns die Wirklichkeit sein
kann - denn wer von uns hört nicht weg, wenn wir die Berichte über
Flutkatastrophen, Hungersnöte, die Ausbreitung von Seuchen, die Mißhandlung
von Kindern in den täglichen Nachrichten hören - für diese
Geschichte, die uns bei den Gefühlen packt und unsere oft abgestumpften
Gedanken außen vor läßt, verleihen wir Wolfgang Jeschke
den Literaturpreis.
Jutta Haitel
- für das Literaturpreiskomitee -
April 1994
Laudatio zum Roman '94