Andraes Fieberg:
Der Fall des Astronauten
Richard sieht rot, wenn irgendwo der Begriff Antipoden fällt: "War er denn
der einzige, der die Wahrheit erkannte - daß wir wirklich allesamt
Antipoden sind, kopfüber aufgehängt wie Fledermäuse, an
einer lächerlichen Kugel, den Himmel als Abgrund unter uns?"
Richard ist Astronaut im vorzeitigen Ruhestand. Als Teilnehmer einer Marsexpedition
versagte er schon im Anfangsstadium: Kaum hatte die Rakete den Anziehungsbereich
der Erde überwunden, mußte der Tobende von seine Kameraden in
die Schwerkraftsimulationstrommel geschoben werden. Richard konnte das
Gefühl, nunmehr nicht vom Planeten aufzusteigen, sondern von ihm herunterzufallen,
nicht ertragen.
Jetzt sitzt Richard allein in seinem Haus, anfangs noch halbherzig konsultierte
Ärzte werden inzwischen nicht mehr aufgesucht, die sozialen Kontakte
versiegen. Er hat einen ständig wiederkehrenden Alptraum: Im Keller
seines Hauses stößt er auf eine (in Wirklichkeit nicht vorhandene)
Falltür; wenn er sie öffnet, blickt er in einen klaren, blauen
Himmel.
Nach einem letzten frustierenden Telefongespräch mit einem ehemaligen Kollegen,
der seine Ängste nicht ernst nimmt, beginnt Richard mit Vorbereitungen
für die Katastrophe: Er schraubt die Möbel fest, fixiert lose
Gegenstände und geht nur noch angeschnallt ins Bett.
Handelt es sich also um einen Bericht aus der Pathologie? Nun, ganz so einfach
macht Andreas Fieberg es uns nicht. Das scheinbar Unmögliche tritt
nämlich ein. Eines Morgens erwacht Richard in den Gurten hängend,
lose Gegenstände liegen auf der Zimmerdecke, kurz: die Schwerkraft
ist erloschen. Und zwar umfassend; Richard kann jedenfalls niemanden mehr
telefonisch erreichen. Kein Wunder, wenn die Hörer alle im leeren
Raum hängen, meterweit von der Gabel entfernt...
Anhänger wissenschaftlicher Science Fiction mögen sich bei diesem Plot mit
Grausen abwenden, doch dazu kommen sie vielleicht gar nicht, denn zu eindringlich
und in sich schlüssig entwickelt Fieberg seine Geschichte. Und ist
es nicht vorzüglichstes Kriterium gerade der SF, auch das Undenkbare
zu denken?
Doch die Materialisten und Rationalisten können aufatmen. Die letzte Szene
der Story räumt ihnen zumindest die Möglichkeit ein, alles Geschehene
doch als Krankengeschichte aufzufassen.
"Der Fall des Astronauten" ist eine auf mehreren Ebenen les- und verstehbare
Erzählung (man kann sie philosophisch, realistisch oder psychologisch
interpretieren); eine originelle Idee wurde mit poetischer Gestaltungskraft
zu einer kleinen Perle der phantastischen Literatur geformt.
Dafür erhält Andreas Fieberg des SFCD-Literaturpreis 1995.
Andreas Kuschke
- für das Literaturpreiskomitee -
Laudatio zum Roman '95