Laudatio 2025 Bester deutschsprachiger Roman

Deutscher Science-Fiction-Preis 2025
Laudatio zum besten deutschsprachigen Roman 2024
»Das zweigeteilte All« von Ralph Alexander Neumüller
Verlag p.machinery; Dezember 2024; ISBN 978-3957654335

Im Prolog des Romans wird eine ländliche Gegend beschrieben, inmitten ein Dorf mit Landwirtschaft und Viehzucht, in dem sich eine Art Beschützer und Arzt liebevoll um den Nachwuchs einer Familie kümmert – bis es zu einer unerwarteten und erschreckenden Wendung kommt.
Dieser als fürsorglicher Betreuer eingeführte Akteur führt seine Rolle als Robot 71.2 in einem weiteren Dorf fort, das sich ebenfalls in einer Epoche befindet, die offenbar dem Mittelalter gleicht. Die Handlung konzentriert sich auf die Jugendlichen Nora und Peter, die der Roboter – kurz »Rob« genannt – als intelligenteste Dorfbewohner ansieht. Er vermittelt ihnen Kenntnisse in Mathematik und Quantenphysik oder lässt sie Hard- und Software anfertigen. Abgesehen von Texten, die sich mit Wissenschaft und Technik befassen, erscheinen dem Lehrmeister nur Anmerkungen zu Leben und Werk des Philosophen Friedrich Nietzsche erwähnenswert. All dies stört Noras Eltern seltsamerweise weniger als die ständige Abwesenheit ihrer Tochter, die mit ihrem Freund lieber am Flussufer ihren Gedanken nachgeht, auch wenn das tägliche Melken der Kühe eine helfende Hand erfordert.

Die für den Unterricht benötigten Bücher und Bauteile werden von Drohnen aus einem Ort namens »Maschinenstadt« herbei transportiert, aber wozu das Wissen über eine fortschrittliche Technologie in einer bäuerlichen Gesellschaft dienen soll, ist zunächst nicht ersichtlich. Es gibt im Dorf offenbar auch keine Großeltern, und den Bewohnern wird von Rob geraten, sich nicht über die Grenzen der Siedlung hinaus zu wagen, wo sich die Natur und insbesondere gefährliche Wildtiere im Alpenvorland ihren Lebensraum zurückerobert haben. Überhaupt konzentriert sich die Bevölkerung Europas auf wenige hundert Dörfer, aber ob hierzu ein einzelnes Ereignis oder das Zusammenspiel mehrerer Katastrophen einige Jahrhunderte zuvor geführt hat, bleibt im Dunkeln. Überhaupt hält sich Rob äußerst bedeckt, wenn die beiden Jugendlichen mit ihren Fragen tiefer bohren wollen.

In Nora wächst der Drang, herauszufinden, was es mit den von Rob erwähnten Menschen des Überflusses aus fernen Zeiten auf sich hat und wie die mysteriösen Weltraumlifte die von Robotern auf dem Mond abgebauten Mineralien zur Erde transportieren. Sie überredet Peter, mit ihr die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, um die von Rob festgelegte Grenze ihres Dorfs zu durchbrechen. Der vorgetäuschten Angriff eines Bären und das daraus resultierende Herumirren in der Wildnis sollen Rob gegenüber als plausibles Alibi für ihre längere Abwesenheit dienen. Der Plan gelingt offenbar, und die beiden stoßen auf ihrer Wanderung auf asphaltierte Straßen und verlassene Häuser. Sie werden aber in ihrem Nachtquartier von einer Gruppe Menschen überrascht, denen es gelungen war, dem Untergang ihres Dorfes zu entkommen.
Nora und Peter kommen im Hauptquartier dieser Gruppe erstmals in Berührung mit Werken der Belletristik und Poesie, aber auch mit Schriften eines zum Chronisten berufenen Roboters namens C420024C, der darüber hinaus fast eine Milliarde Erzählungen der Menschheit in seinem Gedächtnis gespeichert hat. Zehn dieser Kurzgeschichten ergänzen übrigens diesen Roman und tragen zu den Informationsschnipseln bei, mit denen der Autor sein zweigeteiltes All bereichert. Denn aus Aufzeichnungen von C420024C erfahren die beiden Jugendlichen, wie es einst dazu gekommen war, dass die Menschheit sich auf die irdische Biosphäre beschränken muss, während den mit Künstlicher Intelligenz ausgestatteten Robotern der für Menschen lebensfeindliche Weltraum überlassen wurde.

Den beiden Ausreißern wird befohlen, mit ihren erworbenen Kenntnissen in ihr Dorf zurückzukehren. Sie sollen auf Ereignisse achten, aus denen sich das Unheil entwickeln könnte, das über andere Dörfer hereingebrochen war, und versuchen, einen möglichst großen Teil ihrer Dorfgemeinschaft zu retten. Die Ereignisse überschlagen sich kurz darauf, und das Buch wartet in der Folge mit mehr als einer überraschenden Wendung auf.

Wie die handelnden Figuren müssen die Leserinnen und Leser dieses Romans versuchen, sich aus Beschreibungen, Andeutungen und Auszügen aus den Texten des Chronisten-Roboters ein Gesamtbild zusammenzusetzen, aber auch die dem Roman angeschlossenen zehn Kurzgeschichten können nicht alle Lücken im Puzzle schließen. Sind die schriftlichen Hinterlassenschaften aus der Vergangenheit Tatsachenberichte, Legenden oder Erfundenes? Wurden wirklich Bücher bei 451 Grad Fahrenheit verbrannt, und traf der erste Mensch auf dem Mond tatsächlich auf das notgelandete Raumschiff einer außerirdischen Zivilisation? Verfehlungen der Menschheit wie die Steigerung der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre haben die Roboter repariert, aber sind sie auch die Verursacher der dystopischen Zustände, denen die Bewohner der als idyllisch geschilderten Dörfer zum Opfer fallen? Der Autor konfrontiert uns mit den potentiellen Auswirkungen, die Entwicklung und Einsatz Künstlicher Intelligenz auf unsere Lebensweise, Kultur und Moral haben kann. Es sind im Roman und in den damit verbundenen Kurzgeschichten Individuen, die in diesem Umfeld Entscheidungen treffen, aber letztlich hat es Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes.

Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Das zweigeteilte All« von Ralph Alexander Neumüller mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2025 auszuzeichnen.

Thomas Recktenwald
– für das Preiskomitee –
Oktober 2025