Laudatio 2024 Bester deutschsprachiger Roman (Haupt)
Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio bester deutschsprachiger Roman 2023:
»Niemandes Schlaf« von Sven Haupt
Eridanus Verlag; 388 Seiten; ISBN: 978-3946348375
Rose, oh reiner Widerspruch,
Lust,
Niemandes Schlaf zu sein
Unter so viel
Lidern
Dieser Epitaph, den sich Rainer Maria Rilke für seinen gebrauchten Grabstein gewünscht hat, ist dem Buch vorangestellt. Es wird von Germanisten immer wieder gerätselt, was der Dichter damit gemeint hat. Ist nun dieses Buch ein Erklärungsversuch? Wird es die Auffassung des Autors zu diesem Spruch wiedergeben?
»Ich kann ihnen verraten, wie man eine neue Welt schafft. Es bedarf erstaunlich vieler Blumen und einer gebrochenen Frau, die nicht schläft.« (S. 9)
Das ist der erste Satz in diesem Roman und er stammt von der Ich-Erzählerin Lou, die bereits verstorben ist. Sie hieß früher Ludwig, war ein Mann und saß während dieser Geschichte in einem ganz besonderen Rollstuhl, denn durch eine Erkrankung wird ihr Handlungsvermögen immer stärker eingeschränkt. Hier geht es sofort los mit all den Widersprüchen auf verschiedenen Ebenen. So erzählt uns also die Geschichte eine nicht mehr als menschliches Wesen existierende Person, deren Aufgabe es ist »All die Ereignisse zu (schildern), welche dazu geführt haben, dass nun nichts mehr so sein wird, wie es einmal war, auch wenn alles noch so ist wie vorher«.
Eine solche Einführung zeigt deutlich, dass dies kein Buch ist, welches man zum Zeitvertreib liest und vergisst. Die Geschichte hat alles was man sich wünschen kann, Spannung, Liebe, Humor und, ja wie sollen wir es nennen, Esoterik oder spielen mit den Möglichkeiten der Quantenphysik? Wieder einmal hat der Autor eine Geschichte gefunden, die neben dem Lesespaß zum Nachdenken anregt und die Kraft der Blumen – die Kraft des Lebens und der Schönheit- als ein Element der Veränderung der Welt sieht. Waren es nicht die Blumenkinder, die für Liebe und Frieden eintraten? Es sind Rosen, die für vieles stehen, ihre eigene Sprache haben wie Blumen überhaupt, die zu entschlüsseln den Protagonisten und den Lesern zufällt.
Die »alte« Welt in diesem Buch ist eine riesige Megastadt, in der die Menschen sehr entfremdet von der Natur leben. Die Menschen sind abhängig von einem funktionierenden Netz, bei Ausfällen kommt es zu vielen Selbstmorden. Deshalb haben die Häuser keine Fenster, damit sich niemand einfach herabstürzen kann. Natur und Mensch scheinen sich nicht zu vertragen, jedenfalls nicht nach den Gesetzen dieser Stadt. Ist es deshalb eine Katastrophe, weil plötzlich überall Blumen erscheinen? Und müssen sie deshalb um jeden Preis vernichtet werden?
Die Spannung des Buches ist in der Hauptlinie in der Frage enthalten, warum diese Blumen erscheinen, warum sind selbst Drohnenschwärme dabei, aufblühende Blumen zu gestalten. Selbstfahrende Autos stellen sich als Blüten auf. Es sind Kunstwerke, aber was bedeuten sie und warum kann niemand etwas dagegen tun? Auch das Militär ist machtlos,
»Wir brauchen keine transdimensionalen Monster, die kommen um uns zu vernichten. Wir schaffen das sogar, wenn uns lediglich jemand Blumen schenkt.« (S.182)
Für den Humor im Buch sorgt der Rollstuhl von Lou, der auf sie abgestimmt und ein Prototyp ist. Sein Piepsen ist eine Sprache, die Lou versteht, und so mischt er sich ein und missachtet gerne die Anweisungen seiner Passagierin. Auch wenn diese ihm droht, ihn zu »lebenslangem Frondienst als Kaffeemaschine« (S.25) zu verurteilen.
Die Liebesgeschichte erlebt der Leser zwischen Lou und Eva, einem schüchternen Mädchen, welches aber die Stärke hat, eine eigene Meinung zu haben und diese auch gegen Respektspersonen zu verteidigen. So kommen Lou und Eva zusammen und schließlich muss Lou alles aufbieten, um Eva zu schützen, aber gelingt das? Und ist dieser Schutz notwendig?
Die geniale Professorin Bettina Calvin, die mit vollem Einsatz Wissenschaftlerin ist, muss erleben, dass alles, wovon sie seit ihrer Kindheit überzeugt war, nicht mehr stimmt. Sie verliert die Kontrolle über ihre eigenen Forschungen..
»Die Realität ist das, was sich zu verschwinden weigert, selbst wenn ich aufhöre, daran zu glauben.« (S. 146)
Was hat das alles nun mit Niemandes Schlaf zu tun? Geht es darum, dass die Professorin erst am Ende des Buches endlich dazu kommt, zu schlafen? Oder ist es die Frage, ob der Tod, als Bruder des Schlafes, vielleicht nicht das Ende ist? Ist es ein Übergang? Wenn ja, wohin? In ein Paradies? Aber was ist ein Paradies? Sven Haupt hat den Mut, sich eine Vorstellung dazu zu erlauben und sie in seinem Buch zur Diskussion zu stellen. Während in seinem Roman »Die Sprache der Blumen« das Böse am Ende stirbt und damit die Dialektik zwischen Gut und Böse aufgehoben wird, fragt Lou in diesem Buch:
»Hat das Böse Kaffee?
Und die Antwort lautet: „Nach allem, was ich höre, den besten« (S.384)
Eine Geschichte, deren Ende eigentlich ein Anfang ist, trotz aller fantastischen Elemente viele Bezüge zu unserer Gegenwart hat und vom Autor meisterhaft erzählt wird.
Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Niemandes Schlaf« von Sven Haupt mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2024 auszuzeichnen.
Sabine Seyfarth
– für das Preiskomitee –
im April 2025