Laudatio 2024 Beste deutschsprachige Kurzgeschichte
Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio beste deutschsprachige Kurzgeschichte 2024:
»Nicht von dieser Welt« von Aiki Mira
in »Nova 32«, p.machinery, ISBN-13 978-3-95765-312-3, ISSN 1864-2829
Ein verwirrter Vater, sein junger Sohn Jonah und Anna leben in dieser Geschichte in einem durch die Klimakatastrophe veränderten Norddeutschland. Anna ist ein biomimetisches Wesen: »Ein geschlechtsloser Körper, der Fotosynthese mithilfe von Licht und Wasser betreibt«. Die eigentliche Hauptperson der Geschichte ist die abwesende Mutter des Jungen und Ehefrau seines Vaters, die als Astronautin unterwegs zum Mars ist. Um sie kreist das Denken des Jungen, er vermisst sie, ihre Abwesenheit hat für ihn das Haus und alle Gegenstände verändert. Jonah hat Albträume. Er hat Angst um seine Mutter, dennoch will er werden wie sie, ein Astronaut bei der ESA. Die Mutter hat ihm erklärt: »Wenn du zur Elitespezialeinheit der ESA willst […] muss alles andere für dich irrelevant sein: der Vater, der Schmerz, die Erde. Wer zu uns gehört, gehört nicht mehr zu dieser Welt«. Der Vater arbeitet derweil verzweifelt an einem Computerspiel und auf die Frage, woran er denn arbeite, kann er kaum antworten. Er wirkt verwirrt und auch er vermisst seine Frau schmerzlich.
Meist wird die Geschichte aus der Sicht des Jungen erzählt, aber hin und wieder liefert ein kurzer Perspektivwechsel wichtige Details aus der Sicht des Vaters, der vielleicht den Ernst der Lage halbwegs erfasst hat. Denn außerhalb ihres kleinen Hauses spielt sich eine Katastrophe ab.
Erzählt wird in einem behutsamen, langsamen Stil voller Andeutungen, bei dem ich immer das Gefühl hatte, dass das Wichtigste unerzählt bleibt, aber dennoch erkannt werden kann. Der Junge sehnt sich nach seiner fernen Mutter, er will ihr nacheifern. Den Vater akzeptiert er nicht und ignoriert ein Verbot, was ihn in Lebensgefahr bringt. Jonah hat nie freundlich über Anna gedacht und geredet, anfangs schlägt er sogar vor, sie zu essen. Anna hat für ihn nichts Menschliches, »vielmehr erinnert sie ihn an ein seltsames Insekt«. Ausgerechnet dieses Wesen rettet ihm das Leben und erst da sieht er Anna anders, hat weniger Angst vor ihr und ist fasziniert. Anna zahlt einen schrecklichen Preis für ihre Tat, in dem auch ein Stück Hoffnung liegt…
Die Geschichte passt perfekt in den entstehenden Kosmos der Aiki Mira Geschichten: Die Welt erinnert an »Neongrau«; biomimetische und andere Wesen, die neben den Menschen entstehen und die Grenzen des Menschseins ausloten, sind ein wiederkehrendes Thema in Miras Literatur von »Titans Kinder« bis zu »Der Zustand der Welt« in Queer*Welten 8. Zusammen mit »Die Grenze der Welt« aus EXODUS 44 ist eine Art »Welt«-Trilogie entstanden: Dort wird sozusagen die andere Seite gezeigt, denn die Hauptfigur Kat kommt von Kriegen im Weltraum zurück und nimmt Kontakt zu einem Jungen auf, der sich als künstlich herausstellt.
Aiki Mira erzählt atmosphärisch dicht und mit eigenständiger Stimme. Die Texte gehen immer noch einen Schritt weiter in der Beschreibung besonderer Figuren und Welten, die klar in der Tradition der Science Fiction stehen, das Genre aber gleichzeitig neu interpretieren und erweitern. Es genügen wenige Sätze, um stimmige, aber eben auch zukünftige Welten zu zeichnen, die wirklich anders und utopisch wirken. Großartig, wie nah man in »Nicht von dieser Welt« den Figuren kommt, wie man die Sehnsucht des Jungen und die Verzweiflung des Vaters spürt. Und die Hoffnung. Denn Aiki schreibt anti-dystopisch, es gibt Potenzial für eine bessere Zukunft. Wir sind dabei, wenn etwas Neues entsteht: “Wie Grashalme aus einem Trümmerhaufen. Sie sind das Schönste. Sie sind das Verstörendste.Sie sind nicht von dieser Welt.”.
Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Nicht von dieser Welt« von Aiki Mira mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2024 auszuzeichnen.
Franz Hardt
– für das Preiskomitee –
im Mai 2025