»Der Würfel« von Bijan Moini
Atrium Verlag, ISBN-13 978-3-85535-059-9
Die nahe Zukunft. Deutschland wird von einem perfekten Algorithmus gesteuert: Der »Würfel« ermöglicht den Menschen der westlichen Welt ein sorgenfreies Leben, zahlt allen ein Grundeinkommen, sorgt für Sicherheit und Stabilität. Der Würfel regelt alles: Regierung, Infrastruktur, Unterhaltung und Konsum – von der Handy-App bis zur holographischen Wohnungseinrichtung. Er kennt die Wünsche seiner User besser, als sie selbst es tun. Um das zu leisten, sammelt er selbst intimste Daten der Bevölkerung durch lückenlose Überwachung im öffentlichen und privaten Raum. Zugleich ist ohne spezielle Linsen und Ohrstöpsel, die den Trägern Zugang zur virtuellen Welt des Würfels ermöglichen, eine Teilnahme am öffentlichen Leben praktisch unmöglich geworden.
Der junge Taso gehört zu einer schrumpfenden Minderheit von Menschen, die sich der Totalüberwachung entziehen. Anders als die Offliner, die in würfelfreien Zonen wie in Reservaten leben, täuscht er als Gaukler mit großem Aufwand den Würfel über seine Vorlieben und Gedanken, indem er seine Entscheidungen mithilfe von Spielwürfeln und einer Münze trifft. Aber er leidet zunehmend unter den Schikanen, mit denen das System auf Menschen wie ihn reagiert, dem Verlust von Privilegien, sozialer Ausgrenzung und der Entfremdung von Familie und Freunden. Als er sich verliebt, will er mit seiner Freundin ein ganz normales Leben führen, doch der Versuch, sich zu integrieren, scheitert. Taso gelangt zu dem Schluss, dass es nicht ausreicht, sich dem Würfel bloß zu entziehen. Er schließt sich dem bewaffneten Widerstand an, um den Würfel zu zerstören.
Google, Facebook, Instagram – immer mehr Menschen vertrauen ihre persönlichen Daten dem Internet an, machen ihr privates Leben auf diese Weise öffentlich. Firmen analysieren Kauf- und Nutzungsverhalten, legen Kundenprofile an, bombardieren uns mit personalisierter Werbung. Datenschützer werden nicht müde, vor den Gefahren privater Datenmonopole und staatlicher Überwachung in unserer zunehmend digitalen und vernetzten Welt zu warnen. In der Zukunft, die uns Bijan Moini in seinem Roman »Der Würfel« zeigt, sind diese Bedenken längst verstummt. Der gläserne Mensch ist Wirklichkeit geworden, zur Staatsform erklärt, nachdem die Bevölkerung sich in einem Referendum für die Einführung des Würfels entschieden hat.
Bijan Moini schildert eine Welt, in der die Filterung und Gewichtung der Informationen, die heute schon durch Medien, Suchmaschinen und Apps erfolgt und unsere Meinungen und Handlungen beeinflusst, bis zur letzten Konsequenz fortgeführt wird. Indem der Würfel kontrolliert, was die Menschen sehen und hören, kontrolliert er auch ihr Bild von der Welt und kann bestimmen, was sie darüber denken. Er kann Menschen im wahrsten Sinne des Wortes verschwinden lassen, indem er ihre Gesichter in den Augen der anderen ausradiert.
Dabei zeichnet Bijan Moini keine düstere Dystopie, keinen faschistischen Überwachungsstaat, in dem jede unbedachte Äußerung die letzte sein kann. Im Gegenteil. Der Großteil der Bevölkerung betrachtet die Welt des Würfels als ideales System, für das die Menschen ihre vollkommene Abhängigkeit und ihre politische Entmündigung gern in Kauf nehmen. Für sie ist der Würfel nur ein Werkzeug, das erdacht wurde, um ihr Leben zu vereinfachen und zu verbessern. Sie fühlen sich nicht unterdrückt. Offliner und Gaukler sind in ihren Augen nur Verweigerer, die ihr Potential vergeuden und der Gesellschaft schaden.
Schnell zeigt sich, dass auch der Widerstand nicht dem naiven Bild der hehren Freiheitskämpfer entspricht, das sich Taso macht. Es sind keine selbstlosen Idealisten, sondern untereinander zerstrittene Gruppen, die um die Macht konkurrieren, die skrupellos mit ausländischen Regimen paktieren und denen jedes Mittel recht ist, um ihre Vorstellungen durchzusetzen – selbst wenn es Menschenleben kostet.
Taso fordert die Herrschaft über seine eigenen Daten. Er will frei entscheiden können, nicht nur zwischen den Alternativen wählen, die der Würfel ihm vorgibt. Aber was bedeutet diese Freiheit tatsächlich? Was ist sie wert? Wo liegen ihre Grenzen? Und wie weit dürfen wir gehen, um sie zu verteidigen? In einer der beeindruckendsten Szenen des Romans zeigt der Avatar des Würfels Taso, wohin die Freiheit der Entscheidung führen kann, und stellt die These auf, dass Kriminalität und Kriege durch die Fähigkeit des Algorithmus, menschliches Verhalten vorauszuberechnen, eliminiert werden könnten. Ist das nur eine geschickte Manipulation oder tatsächlich der Weg in eine ideale Welt?
Informationelle Selbstbestimmung, kommerzielle Nutzung persönlicher Daten, intelligente Algorithmen – Bijan Moini greift in seinem Roman »Der Würfel« brandaktuelle Themen der modernen Informationsgesellschaft auf und zeigt uns, welche Gefahren, aber auch welche Möglichkeiten aus zukünftigen Entwicklungen erwachsen könnten. Er legt den Finger auf die Wunde, aber er nimmt es dem Leser nicht ab, selbst Antworten auf die Fragen zu finden, die er stellt. Sein Held Taso entscheidet sich schließlich für den Widerstand, aber sein Entschluss, den Würfel zu zerstören, ist letztlich nur der verzweifelte Versuch, die Zeit zurückzudrehen. Der Geist ist längst aus der Flasche.
Das Preiskomitee freut sich, »Der Würfel« von Bijan Moini mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2020 auszeichnen zu können.
Christine Witt
– für das Preiskomitee –
im Juli 2020