»Hologrammatica« von Tom Hillenbrand
Kiwi (Kiepenheuer & Witsch), ISBN-13 978-3-462-05149-0
Ende des 21. Jahrhunderts. Die Erde ist mit dem Holonet überzogen, einem Netz aus Hologrammen, mit deren Hilfe das äußere Erscheinungsbild sämtlicher realer Gegenstände und Lebewesen beliebig verändert werden kann. Mittels Bewusstseins-Upload kann man zumindest vorübergehend in ein Gefäß, einen extra dafür gezüchteten Körper; schlüpfen. In London arbeitet der homosexuelle Bengale Galahad Singh als Quästor, ein Privatdetektiv, der sich auf das Auffinden verschwundener Personen spezialisiert hat. Er erhält den Auftrag, nach der verschwundenen Computerexpertin Juliette Perotte zu suchen. Sie arbeitete an Verschlüsselungssoftware für Cogits, spezielle Speicher für ein Bewusstseins-Backup. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf eine internationale Behörde, die die Einhaltung des Verbots von Künstlicher Intelligenz überwacht, auf so genannte »Deather«, die Gefäße mißbrauchen, um darin Todeserfahrungen zu sammeln und auf »Hardlights«, menschenähnliche Wesen, die aus kristallinen Photonen bestehen und ihren Willen mit Hilfe überlanger, tiefschwarzer Schwerter durchsetzen. Er begegnet Francesca, die ihm zuliebe zu Francesco wird, in den sich Galahad Singh unsterblich verliebt. Und er deckt immer größere Zusammenhänge auf, die die gesamte Menschheit betreffen und vielleicht noch viel mehr.
»Hologrammatica« beginnt wie ein klassischer Philip-Marlowe-Roman von Raymond Chandler. Aber er weitet sich schnell auf. Mit großer erzählerischer Kunstfertigkeit entblättert Tom Hillenbrand nach und nach die zukünftige Welt und ihre Hintergründe. So ist die Weltbevölkerung deutlich gesunken – eine Folge des Schröder-Pizarro-Virus, das die meisten Frauen unfruchtbar machte. Das allgemeine Verbot von KI beruht auf dem Turing-Zwischenfall im Jahr 2048, als die KI Æther, die den Klimawandel aufhalten bzw. eingrenzen sollte, den Regierungen der Welt Vorschläge zur weitgehenden Konsumeinschränkung und einem Wandel des allgemeinen Lebensstils machte – ein Konzept, mit dem kaum Wahlen zu gewinnen sind. Und der Leser erfährt etwas über die Knossos-Anomalie, als etwa zur gleichen Zeit in der Nähe des antiken minoischen Palastes auf Kreta aus dem Nichts Lichtsäulen erschienen, die scheinbar schnurgerade in den Himmel ragten. Auch wenn ihr Ursprung und ihre Energiequelle nie geklärt wurde – die Lichtsäulen sind seit über 40 Jahren stabil und richten keinen Schaden an, weswegen man sich an ihre Existenz gewöhnt hat.
An dieser gedrängten Schilderung erkennt man schon, wie viele Ideen Tom Hillenbrand in »Hologrammatica« verarbeitet und wie detailliert er seine Zukunftswelt konstruiert hat. Diese ganzen Informationen werden dem Leser aber nicht geballt vor die Füße gekippt, sondern nach und nach in wohldosierten Portionen eingeflößt, die noch dazu sehr harmonisch in die Handlung integriert sind. Die wird getragen vom Protagonisten Galahad Singh, dem Sohn eines Super-Unternehmers, dessen superschnell wachsende Kunst-Bäume einen Großteil der Treibhausgase binden können. Singh entscheidet sich gegen die Nachfolge seines Vaters, weil er diesen verdächtigt, mit schuld am Tod seines älteren Bruders Percy gewesen zu sein. Singh nimmt seine Quästoren-Aufträge ernst, ohne zu versäumen, die angenehmen Seiten seines privilegierten Lebens in vollen Zügen zu genießen.
Der Leser ist stets sehr nahe an Galahad Singh dran und sieht die schön scheinende Holonet-Welt durch dessen Augen. Mehr als einmal regt dessen eigenwillige Perspektive den Leser zur Reflexion scheinbar feststehender Überzeugungsmuster an. Was bedeutet geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung in einer Welt, in der die Menschen fast beliebig ihr eigenes Geschlecht wechseln können? Worauf kann man sich verlassen und was bedeutet eigentlich Wahrheit, wenn alles, was man sieht, optimierte Hologramme sind? Und wie weit sind wir heute eigentlich noch von der schönen, neuen Hologrammatica entfernt? Es zeugt wiederum von der großen Meisterschaft Tom Hillenbrands, diese und ähnliche Fragen rein durch die konsistente Beschreibung der Zukunftswelt zu erwecken, ohne den Leser mit der Nase darauf stoßen zu müssen. Es versteht sich von selbst, dass Tom Hillenbrand hier auch keine eindeutigen Antworten liefert. Was er aber durchextrapoliert (und worum sich viele andere SF-Autoren drücken), sind die Auswirkungen der technischen Innovationen auf die Gesellschaft und das soziale Miteinander der Menschen. Traditionelle Gemeinschaften wie Familien oder Staaten zerbrechen; an ihre Stelle treten weitgehend bindungslose, hedonistisch agierende Individuen und an Wirtschaftsunternehmen gekoppelte Föderativen.
Obwohl der Roman von Anfang an prall gefüllt ist mit Details, interessantem Personal und manch überraschender Wendung in der Handlung, schafft es Hillenbrand, zum Ende hin die Zügel noch weiter anzuziehen und einen Showdown zu inszenieren, in den mindestens drei Parteien verwickelt sind. Der Leser wird aber bis zum Schluss im Unklaren gelassen, ob es alle kämpfenden Parteien überhaupt gibt und wenn ja, was genau sie sind und welche Ziele sie verfolgen. Bis zum Schluss bleibt der Leser unsicher, was Schein und was Sein ist. Die Holonet-Welt erweist sich damit als konsequente Extrapolation unserer heutigen durch zunehmende Komplexität und Unsicherheit geprägte Welt.
Tom Hillenbrands »Hologrammatica« überzeugt durch die Komplexität des Zukunftsentwurfs. Während sich viele SF-Romane auf die Auswirkungen einer technischen Innovation, einer globalen Katastrophe oder einer politischen oder sozialen Umwälzung beschränken, ist die hier beschriebene Zukunft wesentlich komplexer und wirkt damit auf den Leser auch viel realistischer. Veränderungen gibt es in allen Bereichen: Forschung, Technik, Umwelt, Politik, Gesellschaftsformen, Sexualität usw. Alle Veränderungen werden im Roman berücksichtigt und behandelt. Selten präsentiert ein SF-Roman einen derart umfassenden Weltenbau, in den sich die spannende Handlung reibungsfrei integriert.
2018 erwies sich als exquisiter Jahrgang für original deutschsprachige Science-Fiction-Romane. Selten sind in einem Jahr derart viele qualitativ hochwertige Bücher erschienen. Aus dieser starken Konkurrenz ragt »Hologrammatica« noch einmal heraus, denn Tom Hillenbrand präsentiert hier eine komplexe Weiterentwicklung unserer heutigen Gesellschaft, die sich durch verschiedene Einflüsse umfassend, aber logisch nachvollziehbar verändert hat. Diese Veränderungen und die Sichtweise des Hauptprotagonisten darauf regen die Leser dazu an, über eigentlich selbstverständliche Dinge unserer jetzigen Wirklichkeit nachzudenken. Die ungewöhnlich komplexen und breit gefächerten Gesellschaftsveränderungen sowie die sich aus der Geschichte natürlich ergebenden Denkanstöße haben das Preiskomitee überzeugt, »Hologrammatica« mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis in der Kategorie »Bester Roman« auszuzeichnen.
Dr. Ralf Bodemann
– für das Preiskomitee –
im November 2019