»Dschiheads« von Wolfgang Jeschke
Heyne Verlag, ISBN-13 978-3-453-31491-7
Vor etwa 100 Jahren mußte das Raumschiff einer terroristischen religiösen Synkretistengruppe im Glast, der extrem heißen Wüste, die den Großteil der Hauptkontinents des sonnennahnen Planeten Hot Edge einnimmt, notlanden, und die sogenannten Dschiheads gründeten am Fluß Ontos ein Dorf mit Tempel. Sie hatten den benachbarten erdähnlichen Planeten New Belfast verlassen müssen, da sie nach Niederschlagung ihres heiligen Krieges die vom säkularen Staat vorgeschriebene sogenannte Gottektomie, eine Behandlung des für starke Religiosität verantwortlichen Bereichs des Gehirns, verweigerten. In der zwischenzeitlich auf dem gegenüberliegenden Flußufer errichteten Flottenstation tun etliche Dorfbewohner Dienst. Auf Anforderung des Stationskommandanten entsendet die James Joyce University auf New Belfast die Exobiologen Prof. Ailif Avrams, Prof. Maurya Fitzpatrick und Sir Jonathan Swift, einen Cyborg-Hund, um aufgrund von Felszeichnungen nach einer möglichen einheimischen intelligenten Lebensform zu suchen, im Verdacht stehen die Dongos, fischfressende Flußbewohner, die etwas an Schildkröten erinnern und sich auch an Land bewegen können. Doch der Großarchon der Dschiheads sieht die Dongos als Nahrungsquelle und die Felszeichnungen als gotteslästerlich und obszön an und will sie daher zerstören lassen. Der alte Stationskommandant ist verschollen, der neue ist nicht bereit, die Wisenschaftler gegen die Dschiheads zu unterstützen, da er keinen neuen Streit wünscht.
Auf den ersten Blick wirkt »Dschiheads« wie ein Roman über die Gefährlichkeit der Religion, doch das ist zu kurz gedacht. Es geht nicht um Religion an sich (also den Glauben an eine übergeordnete Macht), sondern darum, wie das Thema Religion zu einer Ideologie umgemünzt wird, die von den verschiedenen Protagonisten gebraucht und vor allem mißbraucht wird, um mit ihrem Leben fertigzuwerden, sich ihnen genehme Erklärungen zurechtzulegen oder eine Legitimation für ihr Tun zu bekommen, insbesondere zur Machtausübung und Unterdrückumg Andersdenkender. Insofern entlarvt Wolfgang Jeschke die ideologisierte Religion als Mittel zum (egoistischen) Zweck. Als Kontrapunkt dazu setzt er einen echten Gläubigen, den Vater der Exobiologin Maurya Fitzpatrick, der durch den Glauben mit sich und der Welt zufrieden ist und diesen Glauben auch nicht an die Öffentlichkeit trägt, bis er durch die Ideologie der Antireligion mit der sogenannten Gottektomie behandelt wird, was ihm die Grundlage seines Lebens und Wesens entzieht und dadurch in die Verzweiflung führt. Damit setzt Jeschke die öffentliche, an andere gerichtete Ideologie Religion (und zu dieser zählt er auch den Atheismus) als bösen Gegensatz zum harmlosen persönlichen, im Privaten bleibenden Glauben, der ebensogut Nichtglauben sein kann. Der Unterschied zur Ideologie ist, daß der (Nicht-)Glauben eine persönliche Sache bleibt, während die Ideologie missionarisch tätig ist – andere sollen zum »rechten (Nicht-)Glauben« bekehrt werden. Diese psychologisch-gesellschaftlichen Betrachtungen machen einen Teil des Reizes von »Dschiheads« aus.
Neben diesen menschlichen Problemen durchzieht den Roman auch das Rätsel nach den Schöpfern der Felsritzungen. es ist kein einheimisches Lebewesen bekannt, das über hinreichende Intelligenz für derartige Kunstwerke verfügen würde. Die Dongos geraten nur daher in Verdacht, weil sie in den Zeichnungen zu Hunderten dargestellt sind. Wolfgang Jeschke setzt den Leser hier buchstäblich auf die Spur, die er inmitten der menschlichen Konflikte nie aus den Augen verliert und am Ende mit einer logischen und innovativen Erklärung auflöst.
Die wirklich herausragenden Eigenschaften von »Dschiheads« sind Sprache und Stil. Wolfgang Jeschke erzählt in einer derart kraftvollen und bildgewaltigen Sprache, daß dem Leser das Geschehen plastisch, ja geradezu audiovisuell vor Augen steht. Es finden sich immer wieder der uns fremden Welt wahrhaft poetische Beschreibungen, deren Schönheit einen ganz in ihren Bann schlägt.
»Dschiheads« behandelt mit dem Mißbrauch von Religion als Ideologie ein aktuelles und brisantes Thema. Diese rein menschlichen Probleme werden anhand der Suche nach einer intelligenten außerirdischen Spezies in einen weit größeren Kontext gesetzt und damit relativiert: Die Menschheit soll mit offenem Geist die Natur erforschen und von ihr lernen, statt sich im ewig gleichen alten Streit um die »richtige« Ideologie selbst zu zerfleischen. Zusammen mit der überragenden Sprache sind dies die Gründe, die das Komitee bewogen haben, »Dschiheads« mit dem Deutschen Science Fiction Preis 2014 auszuzeichnen.
Martin Stricker
– für das Preiskomitee –
im Juli 2014