Oliver Henkel:
Die Zeitmaschine Karls des Großen
1550 ab urbe condita (796 n. Chr.): Die Römischen Imperien sind die herrschenden Großmächte dieser Zeit. 796 nach Christus – zu dieser Zeit? Ganz recht, Odoaker hat es nämlich nicht geschafft, Romulus Augustulus abzusetzen, stattdessen wurde Marcus Scorpio Kaiser, und seine Dynastie herrscht noch immer. Doch da ist der völlig unbedeutende fränkische Vasallenkönig Karl, der über eine Zeitmaschine verfügt, die er einem US-Zeitreisenden abgenommen hat. Der hat zuvor in Pompei unsere Zeitlinie gründlich durcheinander gebracht. Nun versucht Karl im Geheimen, herauszufinden, was denn nun schief gegangen ist in Pompei. Gleichzeitig aber, da er dem vorgeblichen Zeitreisenden nicht so ganz traut, betreibt Karl seine Kaiserkrönung in seiner eigenen Zeitlinie und schreckt dabei vor nichts zurück…
Dieser Kurzabriss der Handlung kann natürlich nicht die erzählerische Tiefe des Romans widerspiegeln. Oliver Henkel zeichnet eine völlig plausible alternative Zeitlinie, die er kenntnisreich mit vielen Details ausstattet. Dies beginnt mit der Rettung des Imperiums durch Rufus Scorpio, bezieht bekanntere und unbekanntere Einzelheiten der Geschichte wie Mohammed (hier Mahometus genannt) mit ein und bringt auch „neue“ Erfindungen ins Spiel wie den optischen Telegrafen, den Buchdruck oder das Fernrohr.
Bei den handelnden Personen konzentriert sich Oliver Henkel vor allem auf Andreas Sigurdius, den Sohn eines ostgotischen Grafen und einer Lateinerin. Er arbeitet für das Officium Foederatii, das die Belange der zum Weströmischen Imperium gehörenden Germanenstämme verwaltet. Er soll im Frankenreich die rätselhaften Vorgänge untersuchen, die oströmische Spione gemeldet haben. So baut König Karl offenbar eine Reiterstreitmacht auf, erhebt als „Karl der Große“ Anspruch auf den römischen Kaiserthron und sät Unfrieden zwischen den Nicaeern (Vorläuferin der katholischen und orthodoxen Kirche) und den Arianern (die in unserer Welt zu dieser Zeit bereits ausgerottet waren). Das Officium sieht darin eine direkte Bedrohung des Imperiums, zumal gleichzeitig Persien zum Angriff auf Konstantinopel ansetzt. In einer ähnlichen Konstellation hatte schon Frankenkönig Theudebert versucht, Rom zu erobern.
Andreas Sigurdius trifft nun in Trevera (Trier) auf einen US-amerikanischen Zeitreisenden, der versucht, den von seinem Landsmann angerichteten Schaden wieder gutzumachen. Sigurdius tut sich mit Captain Franklin Vincent zusammen, um den ersten Zeitreisenden zu finden sowie die genaue Veränderung im Zeitablauf, um den Fehler korrigieren zu können. In der Zwischenzeit tobt der Krieg mit Persien mit zunächst ungewissem Ausgang. Bald darauf fällt Karl in Italien ein, und es sieht ganz so aus, als ob der Plan des Möchtegernkaisers gelingen wird…
Oliver Henkel gelingt es ausgezeichnet, die Elemente Zeitreise und Alternative Zeitlinie zu verbinden. Dabei beschränkt er sich nicht alleine darauf, eine spannende und unterhaltende Geschichte zu erzählen, nein, er wirft auch interessante ethische Fragen auf: Welches Recht hat Captain Vincent, zu entscheiden, welche der beiden alternativen Zeitlinien die „richtige“ ist? Besonders da die alternative Zeitlinie ganz offensichtlich viel besser und weniger blutig verläuft – hervorragend verdeutlicht durch die im Handlungsverlauf eingestreuten Albträume. Gleichzeitig fragt sich der Leser, wie denn unsere Welt so intolerant und selbstzerstörerisch hat werden können. Henkel deutet hier die Erklärung an, dass die Verfolgung der „Hexen“ und des Übernatürlichen hier eine Rolle spielen könnte – das alternative Römische Reich ist da sehr tolerant!
Dieser hervorragende Roman bleibt dem Leser im Gedächtnis, denn er erzählt nicht nur eine faszinierende Geschichte, sondern regt darüber hinaus zum Nachdenken über unsere eigene Welt an, und das ganz ohne erhobenen Zeigefinger einfach so nebenbei. Science Fiction ist immer dann am besten, wenn sie die Probleme unserer Gegenwart unter neuen Gesichtspunkten reflektiert, was hier eindrucksvoll und ganz zwanglos eingeflochten wird und die Erzählung bereichert. Das Preiskomitee freut sich daher, diesen Ausnahmeroman, der noch dazu als „Book on Demand“ ohne Hilfe eines Verlags erschien, mit dem Deutschen Science Fiction Preis 2002 würdigen zu können.
Martin Stricker
– für das Preiskomitee –
Juni 2002