Rainer Erler:
Ein Plädoyer
Überhaupt sind wieder einmal nur die Medien schuld mit ihrer reißerischen, in großen Teilen verfälschenden Berichterstattung. Na ja, ein bisschen geschmeichelt fühlt er sich doch, mit Gott verglichen zu werden. Was Wunder also, dass ihm diese fundamentalistischen, auf die Bibel pochenden texanischen Richter und Geschworenen gleich mehrtausendfach die Todesstrafe angedeihen lassen wollen. Kein Vergleich mit den liberalen Gegebenheiten in jenem – zugegebenermaßen ein wenig vom Bürgerkrieg heimgesuchten – afrikanischen Staat, der seinem Forscherdrang keine Fesseln anlegte. Mit dem dortigen Vertreter der Katholischen Kirche verstand er sich im übrigen hervorragend. Denn die von ihm gentechnisch auf eine höhere Entwicklungsstufe gebrachten Schimpansen ließen sich durch die Bank taufen und das Zugeständnis abringen, zumindest zum Gottesdienst züchtige Kleidung anzulegen.
Es ist halt wie im tiefsten Mittelalter, dieser Versuch, seinem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis mit Kleinkram wie ethischen Bedenken entgegenzutreten, statt zu bewundern, zu welch prächtigen Geschöpfen sich seine Primaten entwickelt haben, ob sie nun im Dienste der Regierung oder der Rebellen einander mit selbstgebastelter Waffe die Kehle durchschneiden. Ihrem pyromanischen Spieltrieb frönen oder sich nächtliche Straßenrennen liefern. Mag die ein oder andere Unvollkommenheit noch vorhanden sein, am Ende kann die Menschheit froh sein, wenn sie noch ein paar Jährchen überlebt, bevor sie von einer fortgeschrittenen Zivilisation überrollt wird und das Schicksal der Neanderthaler teilt.
17 Seiten Monolog muss die texanische Jury über sich ergehen lassen, versehen mit den üblichen Vorwürfen, dass Außenstehende die Sache ja gar nicht richtig beurteilen könnten, mit Angriffen auf die von Bedenken geplagte wissenschaftliche Konkurrenz, Ausflügen in Biologie, Genetik und Soziologie sowie einem kleinen Abstecher in die Philosophie. Wer bei Kant und Hegel reingeschnuppert hat, kann doch kein schlechter Mensch sein – und in der Tradition von Giordano Bruno und Galileo Galilei zu stehen, ist immerhin eine Ehre. Dabei hat er diese Art von Unsterblichkeit nicht einmal nötig.
Vor rund 30 Jahren betreute Professor Heinz Haber eine TV-Reihe, die er „Geschichten aus der Zukunft“ nannte. Die von ihm aufgegriffenen Themen sollten jedoch im Laufe der Jahrzehnte Realität werden oder stecken – wie im Falle der Bio-Chips – heute in der Entwicklungsphase. Erschreckend war, dass sich die in einer Folge geschilderten persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer Leihmutterschaft zehn Jahre später auf ähnliche Weise in der Realität wiederholten. Dabei hätte man doch annehmen können, dass Politik und Gesellschaft ausreichend Zeit zur Verfügung stand, sich auf ein angemessenes Regelwerk zu einigen.
Heutzutage wird der Begriff „Science Fiction“ von den Medien geradezu inflationär gebraucht, um Entwicklungen zu beschreiben, die zwar noch nicht heute, aber in einer Woche Wirklichkeit werden. Die Politik hechelt jetzt erst recht hinterher. Mehr oder weniger abstruse Ankündigungen geistern durch die Nachrichten, und manch einer der sich zu Wort meldenden Genforscher könnte Rainer Erlers fiktivem Wissenschaftler Pate gestanden haben. Vermutlich wird sich mancher später auf ähnliche Weise vor Gericht herauszureden versuchen, sollte es ihm gelungen sein, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Was zeichnet eine SF-Kurzgeschichte aus – oder in diesem Falle besser gefragt: Wer zeichnet sie aus? Es wäre schade, wenn sich das Komitee auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner hätte einigen müssen – derjenige mit Vorliebe für eine Pointenstory im Einklang mit dem Forderer handwerklicher Fertigkeit, darauf achtend, dass der Verfechter eines zur Diskussion anregenden Inhalts nicht in den Hintergrund gedrängt wird und auch derjenige zu seinem Recht kommt, der in der SF eben keine Geschichten aus einer nebulösen Zukunft sieht, sondern eine Kritik am Hier und Jetzt. Das Komitee freut sich daher, in diesem Jahr ein Werk als beste Kurzgeschichte zu prämieren, das all diese Kriterien im höchsten Maße erfüllt und daher sozusagen kompromisslos die Spitzenposition erreicht hat.
Thomas Recktenwald
– für das Preiskomitee –
August 2001