Gudrun Pausewang:
Die Wolke
Mitte der 90er Jahre, Tschernobyl ist schon fast vergessen, passiert ein SuperGAU: im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld unweit von Schweinfurt.
Die Eltern von Janna-Berta und ihrem jüngeren Bruder Uli, die an diesem Tag in Schweinfurt zu tun haben, kommen dabei ums Leben; nicht genug: eine radioaktive Wolke breitet sich aus, die bald auch Nordhessen und damit das Heimatdorf von Janna-Berta und Uli bedroht. Für die beiden, wie für viele Millionen anderer Menschen, beginnt eine Flucht ins Ungewisse.
Wie zu erwarten, erweisen sich alle Alarmpläne als mangelhaft. Die Behörden sind unfähig, den Strom der Flüchtenden zu kontrollieren; die Fluchtwege sind in kürzester Zeit verstopft. Außerdem sind viele Menschen in ihrer Todesangst ohnehin nicht mehr mit Vernunft anzusprechen. Es kommt zu schrecklichen Szenen. Janna-Berta muß erleben, wie ihr Bruder von einem brutalen Autofahrer getötet wird.
Janna-Berta gelingt es nicht, der Wolke zu entkommen. Sie wird radioaktiv verseucht und muß lange Wochen in einem Nothospital verbringen. Schließlich wird sie von ihrer Tante nach Hamburg geholt. Doch damit sind die Probleme noch nicht gelöst: Viele gesunde Menschen verweigern jeden Kontakt mit den „Hibakushi“, wie die Opfer des GAUs in Erinnerung an die Opfer des Atombombenabwurfs über Hiroshima genannt werden; sie werden als Menschen zweiter Klasse angesehen.
Ein gutes Jahr später kehrt Janna-Berta endlich in ihr Heimatdorf zurück; die äußeren Sperrzonen des radioaktiv verseuchten Gebiets sind inzwischen aufgehoben worden. Mit ihren Großeltern, die während der Katastrophe auf Mallorca waren, zieht sie wieder in ihr Elternhaus ein. Und das Leben geht weiter, so als wäre nichts geschehen, so als hätte Janna-Berta die Massenflucht und den Tod ihres Bruders nicht mitangesehen, so als wäre sie nicht verstrahlt worden.
Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf.
Fast einhellig war das Komitee der Meinung, daß Gudrun Pausewangs Roman „Die Wolke“ eine herausragende Leistung, nicht nur auf die deutsche SF im Jahre 1987 beschränkt, darstellt: Fünf Jurymitglieder setzten das Buch auf Platz 1, viermal wurde die Höchstnote vergeben.
„Die Wolke“ ist ein zupackendes Buch, das kaum einen Leser unbeteiligt läßt. Das Geschehen wird aus der Sicht eines Kindes erzählt; dadurch entfallen der Denkfilter der Erwachsenen- bzw. Politikersprache sowie deren verharmlosende Sprachregelungen. Das Erleben der Handlung wird viel direkter, unverbrämter und damit auch viel erschreckender. Der Roman ist mit der nötigen Eindringlichkeit geschrieben, um auch diejenigen zu erreichen, die durch die täglichen Katastrophenmeldungen und das Überstrapazieren des Themas „Kernkraft“ längst abgestumpft sind.
Gudrun Pausewang schreibt nicht aggressiv, vielmehr traurig-feststellend. Die Extrapolation der bei uns herrschenden Verhältnisse ist überzeugend, besonders was das Verhalten von Menschen angeht. Es stellt sich die Frage, ob man überhaupt etwas ändern kann. Bei der Lektüre des Romans jedenfalls staut sich eine ungeheure Entrüstung an; sie sollte einen Lernprozeß beim Leser einleiten…
Sprachlich und stilistisch ist das Buch gelungen; darüberhinaus ist es ungemein spannend geschrieben.
Anmerkung: „Die Wolke“, in der „Jungen Reihe“ des Otto Maier Verlags Ravensburg erschienen, sollte nicht als Jugendbuch schubladisiert bzw. mißverstanden werden.
Willmar Plewka
– für das Literaturpreiskomitee –