Rainer Erler:
Der Käse
Es passiert, was eigentlich nicht passieren dürfte: im Reiferaum einer Almhütte in den Alpen entwickelt sich auf einem Käse eine intelligente Schimmelpilzkultur. Nun handelt es sich bei dieser Schimmelpilzkultur keineswegs um eine, die mal gerade so zwei und zwei zusammenzählen kann; nein – mit dem erwachenden Bewußtsein gelangen die Schimmelpilzindividuen zu der Erkenntnis, daß es einen Schöpfer, eben den Senner, welcher den Käse geformt und den ersten Schimmelpilz auf diesen gesetzt hat, geben muß. „Ein Senner, der seine Hand über gläubige Schimmelpilze hielt, der allwissend war und weise.“
Im Laufe der Zeit entwickeln sich voneinander abweichende Meinungen über die Natur und die Absichten des Schöpfersenners in den verschiedenen Schimmelpilzvölkern. Es kommt zu Glaubenskriegen, Ächtung von Ketzern und zur Herrschaft der im Besitz der einzigen Wahrheit befindlichen Hohepriester – immer auf der Suche nach der absoluten Wahrheit: den Absichten des Senners.
In den Passagen, die die Entwicklung der Schimmelpilze schildern, entwickelt Rainer Erler ein Bild ihrer und unserer Religionen, das zwar satirisch übersteigert, aber doch frappierend genau nachempfunden wirkt.
Aber Erler setzt diesem für sich genommen „nur“ religionslästerlichen Topf auch noch einen blasphemischen Deckel auf. Im Parallelstrang der Kurzgeschichte beschäftigt sich „Der Käse“ mit den Gedanken des schimmelpilzkulturschaffenden Senners. Der weiß überhaupt nichts davon, was er da auf einem seiner Käse geschaffen hat. Ihm geht es an diesem Freitag nur um eines, nämlich darum, auf die andere Seite des Tals zu gelangen, weil dort die „Babs“ wohnt und er in der Vorfreude aufs Vögeln bereits jetzt eine Erektion in der Lederhose verspürt. Die Steine, die der liebe Herrgott ihm bis dahin in den Weg legt, wie z.B. das unbedingt notwendige Waschen der Füße oder das Streiken des Unimogs, der erst noch repariert werden muß, machen dabei Erlers Satire rund: wenn der Senner als Gott der Schimmelpilze mit trivialen Gedanken beschäftigt ist, wie sieht es dann mit dem Gott der Moslems, Juden und Christen aus?
Mit einer überraschend hohen Punktzahl – immerhin waren dreizehn (bzw. nach dem Herausfallen von Ernst Petz‘ „Gottes Farbe“ zwölf) Kurzgeschichten und Erzählungen nach den Nominierungen noch im Wettbewerb – konnte sich „Der Käse“ von Rainer Erler bei der Endauswahl zum SFCD-Literaturpreis durchsetzen.
Beide Tatsachen zeigen, daß 1988 zumindest für die SF-Kurzgeschichte kein schlechtes Jahr im Vergleich zu den letzten war, und geben für die Zukunft die Hoffnung und vielleicht bereits erste Anzeichen für eine Besserung für die SF in Deutschland allgemein und die deutschsprachige SF im besonderen.
Christian Mathioschek
– für das Literaturpreiskomitee –