»Fatous Staub« von Christian Mähr
Heyne, ISBN-10 ?
Erinnert sich jemand an die Story „Zensur“ von Dr. Florian Marzin, erschienen in der Anthologie „Das Blei der Zeit“ bei Heyne, die Geschichte, wo ein Computer eine Story umschreibt, damit die Rolle des Computers in dieser Story unter günstigem Licht erscheint?
Erinnert sich jemand an Buch und Film, vor Jahren erschienen und gelaufen unter dem Titel „Welt am Draht“, die Geschichte von Menschen, die dahinterkommen, daß sie nur simuliert werden, die Geschichte, die beim Leser und Filmbetrachter diese unsichere Frage hinterließ, ob nicht unser ganzes Leben auch nur eine Simulation, vielleicht simuliert in einer simulierten Simula…
An die Geschichte von Herrn Marzin muß man sich nicht erinnern. An „Welt am Draht“ aber wird sich jeder SF-Fan immer erinnern – damals, heute und in Zukunft. So könnte es auch Christian Mähr mit seinem Buch „Fatous Staub“ gegangen sein, der die von Marzin verschwendete Idee aufgriff, sich an sein eigenes Erlebnis von „Welt am Draht“ erinnerte und unter Beigabe seiner eigenen schöpferischen Fähigkeiten ein Werk schuf, das zeigt, daß deutschsprachige SF in der Lage ist, zu faszinieren, qualitativ hochwertig zu sein, brillant, spannend, interessant, humorig und actiongeladen. Und dabei doch deutsch, eben nicht amerikanisch, nicht englisch, einfach deutsche Literatur.
Mährs Roman handelt von Parallelwelten, von Simulationen, von Beeinflussungen durch Menschen (Autoren!) und Maschinen (Computer!). Es beginnt in einer Ebene, wo sich der („trockene“) Ich-Erzähler (der namenlos ist und bleibt) eine (neue!) Festplatte zulegt, diese installiert und dann ein Romanmanuskript vorfindet, welches nicht von ihm geschrieben wurde. Der Autor ist der (saufende) Ich-Erzähler aus einer parallelen Welt, gleichfalls namenlos (und namenlos bleibend), weil mit dem „trockenen“ Ich-Erzähler identisch. Den „Trockenen“ fasziniert der Roman, und er entschließt sich, ihn in seiner Welt zu veröffentlichen. Und wir erfahren, was es mit dem Roman um zwei parallele Welten auf sich hat, in denen auf der einen Seite Willy Pettkow, auf der anderen Seite Baron Johannes von Pettkow die Hauptrollen spielen, beide Radiojournalisten, beide in Welten lebend, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden: in des Barons Welt hat es die Weltkriege nicht gegeben, keine Judenverfolgung (sehr wichtig!) und keinen Holocaust; des Barons Welt ist die Fortführung des wilhelminischen Zeitalters mit all seinen Schrullen und allen Standesunterschieden zwischen Adel, Bourgeoisie und Arbeiterklasse (die – in unserer Welt-, ausgelöst durch den ersten Weltkrig und den Niedergang der deutschen Monarchie, zum zweiten Weltkrieg und dem „Erfolg“ Adolf Hitlers führten).
Der „Roman im Roman“ beschreibt die beiden Welten der Pettkows und wie sie sich zu verschränken beginnen – und zwar nur durch den Einfluß von außen, durch die beiden Ich-Erzähler, die zunächst nichts voneinander wissen, die aber über und durch diesen Roman einen verhängnisvollen Kontakt herstellen. Der Leser wird hineingezogen und hineingetrieben in die immer stärkere, immer skurrilere und verrücktere Verschränkung vierer (!) Parallelwelten, in Rollentäusche, in die Intrigen eines Dr. Richard Nierwald alias Monsieur Fatou, der als einziger in allen Welten als eine Person präsent ist, in die Rolle eines auf einem Zufallsgenerator basierenden Lyrikprogrammes auf einem Personalcomputer – und ein verrücktes Ende, das bei aller Verrücktheit nur folgerichtig sein kann.
Mähr verschränkt in seinem Roman zwei grundsätzlich verschieden und unvereinbar scheinende Dinge: Mathematik (und auch Computer sind nichts als Spezialfälle der Mathematik) und Surrealismus. Das Buch entwickelt sich zu einem Wirbel aus diesen beiden Elementen – und die Verrücktheiten mathematischer Anomalien und surrealistischer Bilder wirken faszinierend auf jeden Leser, auch den in diesen beiden Aspekten „ungebildeten“ Leser.
Mähr entpuppt sich in seinem Werk als der möglicherweise existierende deutsche R.A. Lafferty – sofern es ihn geben soll und muß. Er zeigt aber vor allem auch, daß die österreichischen SF-Autoren offensichtlich einen Hang zu mathematischen Themen haben; nach Andreas Findigs Gödel im vorigen Jahr geht es diesmal um den französischen Mathematiker Fatou, der sich nach dem Bekunden des Autors Mähr vor allem fraktaler Mathematik widmete.
Christian Mähr hat mit seinem Roman dem Literaturpreiskomitee ein Werk vorgelegt, in dem Science Fiction im härtesten Sinne, repräsentiert durch Mathematik und Physik, mit Phantastik und Fantasy im surrealistischen Sinne zu einem faszinierenden Wirbel aus Spannung, Aktion und wissenschaftlich bildender Nachdenklichkeit zusammengebracht werden – und mit all diesen Zutaten eine kurzweilige, aber keinesfalls kurzatmige Unterhaltung bietet. Das hat den Preis verdient, dachten wir uns – ohne Zweifel.
Michael Haitel
– für das Literaturpreiskomitee –